Dies ist ein Auszug aus dem Buch Gemeinschaftsbildung, der Weg zu authentischer Gemeinschaft von Scott Peck (Eurotopiaverlag, 2007) Zu bestellen für 17,90 EUR inkl. Versand innerhalb D. bei: verlag.eurotopia.de

„Ein Laboratorium für persönliche Abrüstung

Foto MitteZum Ende einer 2-tägigen Gemeinschaftserfahrung kündigte eine Dame mittleren Alters der Gruppe an: „Ich weiß, dass Scotty sagte, wir sollten nicht aussteigen, aber als mein Mann und ich gestern Abend nach Hause kamen dachten wir genau daran. Ich schlief letzte Nacht nicht gut und wäre heute Morgen beinah nicht gekommen. Doch dann passierte etwas Seltsames. Gestern schaute ich euch alle durch „harte Augen“ an. Aber heute sind meine Augen auf eine Weise, die ich selbst nicht verstehe, weich geworden, und es fühlt sich so wundervoll an.“

    Diese Verwandlung – in echter Gemeinschaft ein normaler Prozess – ist dasselbe …...wie in der Geschichte vom Geschenk des Rabbi. Das verfallene Kloster, die sterbende Gruppe wurden wieder lebendig (und zu einer echten Gemeinschaft), als die Mitglieder anfingen, die anderen und sich selbst mit „weichen“, achtungsrespektvollen Augen anzuschauen. In unserer Kultur des schroffen Individualismus mag es seltsam scheinen, dass diese Verwandlung genau dann anfängt, wenn wir „zusammenbrechen“, das heißt, wenn wir unsere Verteidigungsmechanismen aufgeben. Solange wir uns nur durch die Masken unserer Gefasstheit sehen, schauen wir uns durch „harte“ Augen an. Aber wenn die Maskenfassaden fallen und wir das Leiden, den Mut, die „Gebrochenheit“ und die tiefere Würde, die darunter liegt, erkennen können, fangen wir wirklich an, uns gegenseitig als unsere Mitmenschen zu respektieren.

        Verletzbarkeit ist keine Einbahnstraße. Echte Gemeinschaft verlangt von uns die Fähigkeit, unseren Mitmenschen unsere Wunden und Schwächen zu zeigen. Sie verlangt auch, dass wir uns von den Wunden anderer berühren, ja, verletzen lassen. Das ist es, was diese Frau meinte mit „weichen Augen“. In unseren Wunden ist Schmerz. Doch noch wichtiger ist die Liebe, die zwischen uns erfahrbar wird, wenn wir in beide Richtungen unsere Verletzlichkeit zeigen. Trotzdem kann nicht außer Acht gelassen werden, dass diese Art des „Mitteilens“ in unserer Kultur ein Risiko birgt, nämlich das Risiko, sich nicht an die Norm der angeblichen Unverletzlichkeit und Ganzheit zu halten. Für die meisten von uns ist das eine neue – und scheinbar potentiell gefährliche – Form des Verhaltens.

    Es mag seltsam erscheinen, von echter Gemeinschaft als Laboratorium zu sprechen. Unter diesem Wort versteht man landläufig einen sterilen Ort, der nicht mit Weichem, sondern mit „Hardware“ gefüllt ist. Doch kann man ein Laboratorium auch als einen Ort bezeichnen, der dafür geschaffen ist, Experimente in Sicherheit durchzuführen. Wir brauchen solche Plätze, denn wenn wir experimentieren, testen wir neue Wege des Handelns. So ist das mit wirklicher Gemeinschaft: Sie ist ein sicherer Ort, um mit neuen Verhaltensweisen zu experimentieren. Wenn Menschen ein solcher sicherer Ort geboten wird, beginnen sie auf ganz natürliche und mehr in die Tiefe gehende Weise mit Vertrauen und Liebe zu experimentieren. Sie lassen ihre normalen Verteidigungsmechanismen, ihre Ängste, ihre Schranken aus Misstrauen, Angst, Ressentiments und Vorurteilen beiseite. Sie experimentieren mit Frieden – mit Friedfertigkeit in ihnen selbst und in der Gruppe. Und sie entdecken, dass das Experiment funktioniert.

    Ein Experiment dient dazu, uns neue Erfahrungen zu gestatten, aus denen wir neue Erkenntnisse schöpfen können. Auf diese Weise entdecken die Mitglieder einer echten Gemeinschaft auf experimentelle Weise die Regeln des Friedenschließens und erfahren seine Qualitäten, wenn sie sich persönlich entwaffnen. Das ist eine so starke persönliche Erfahrung, dass sie zur treibenden Kraft hinter der Friedenssuche auf die ganze Welt bezogen werden kann.

Auf den ersten Blick mag es paradox erscheinen, dass eine wirkliche Gemeinschaft ein sicherer Ort und ein Laboratorium für Entwaffnung und zugleich ein Ort für Konfliktaustragung sein soll. In einer echten Gemeinschaft gibt es keine Parteibildung. Es ist zwar nicht immer leicht, doch bis Menschen Gemeinschaft erreicht haben, haben sie auch gelernt, Cliquen und Grüppchen aufzugeben. Sie haben gelernt, einander anzuhören und einander nicht abzulehnen. Es kommt vor, dass Gemeinschaften mit unglaublicher Schnelligkeit Konsens erreichen. Aber oft wird das nur nach langen Kämpfen geschafft. Die Tatsache, dass es sich um einen sicheren Ort dreht, heißt noch nicht, dass es in einer Gemeinschaft keine Konflikte gibt. Es ist aber ein Ort, wo Konflikte ohne körperliches oder emotionales Blutvergießen ausgetragen werden, in Weisheit und Anmut. Eine Gemeinschaft ist ein Ort, an dem mit Anmut gekämpft wird.

    Das ist nicht zufällig so. Eine wirkliche Gemeinschaft ist ein Amphitheater, wo die Gladiatoren Waffen und Rüstung abgelegt haben, wo sie gut im Zuhören und Verstehen geworden sind, wo sie ihre Gaben gegenseitig schätzen und ihre Grenzen akzeptieren, wo sie ihre Unterschiedlichkeiten feiern und sich gegenseitig ihre Wunden verbinden, wo sie sich vorgenommen haben, miteinander zu kämpfen anstatt gegeneinander. Es ist wirklich ein sehr ungewöhnlicher Kampfplatz. Doch gerade deswegen ist echte Gemeinschaft ein guter Platz, um Konflikte zu lösen.

    Dies ist von höchster Bedeutung. In dieser Welt gibt es sehr reale Konflikte, von denen die wenigsten gelöst zu werden scheinen. Aber es gibt da eine Phantasievorstellung. Vereinfacht ausgedrückt heißt sie: „Wenn wir unsere Konflikte auflösen können, werden wir eines schönen Tages eine große Gemeinschaft sein." Könnte es sein, dass wir das Pferd am Schwanz aufgezäumt haben? Und dass der Traum in Wahrheit heißt: „Wenn wir in wirklicher Gemeinschaft zusammenleben können, dann wird es uns auch eines Tages gelingen, unsere Konflikte beizulegen?“

Eine Gruppe wo jeder leitet (group of all leaders)

Wenn ich ein ernannter Leiter bin, so habe ich herausgefunden, dass eine Gruppe, sobald sie zu einer Gemeinschaft geworden ist, meinen Job nicht mehr braucht. Ich kann mich zurücklehnen und entspannen und einer unter vielen sein, denn ein anderes Charakteristikum von wirklicher Gemeinschaft ist eine totale Dezentralisierung von Autorität. Denken wir daran, dass echte Gemeinschaft antitotalitär ist. Ihre Beschlüsse werden im Konsens erreicht. Manchmal werden Gemeinschaften als führungslose Gruppen bezeichnet. Genauer ist es jedoch zu sagen, dass eine Gemeinschaft eine Gruppe ist, in der alle leiten.

    Weil Gemeinschaften sichere Orte sind, fühlen sich dort zwanghafte Führer – oft zum ersten Mal in ihrem Leben – frei, nicht führen zu wollen. Und diejenigen, die gewöhnlich schüchtern und reserviert sind, fühlen sich frei ihre latent vorhandenen Führungsgaben in die Gruppe einzubringen. Als Ergebnis ist so eine Gemeinschaft ideal geeignet um Beschlüsse zu fassen.

    Der Fluss von Führung ist Routine in wirklichen Gemeinschaften. Dieses Phänomen hat eine große Tragweite für jeden, der versucht Entscheidungsprozesse auf organisatorischer Ebene zu verbessern – im Geschäftsleben, in der Regierung oder anderswo. Aber das setzt voraus, dass sich zuvor echte Gemeinschaft entwickelt hat. Traditionelle hierarchische Muster müssen, wenigstens vorerst, beiseite gelegt, Kontrolle muss abgegeben werden. Denn in dieser neuen Situation ist der Geist der Gemeinschaft das leitende Element und nicht ein einzelnes Individuum.

EIN GEIST

Gemeinschaft ist ein Geist – aber nicht das, was wir landläufig unter „Gemeinschaftsgeist“ verstehen. Für die meisten von uns beinhaltet das Konkurrenzgeist, ein chauvinistisches Angebertum wie es Fußballteams, die ein Spiel gewonnen haben zur Schau stellen, oder die Bürger einer Stadt, auf die sie so stolz sind. „Unsere Stadt ist besser als eure Stadt“, mag ein typischer Ausdruck dieser Art von cliquenorientiertem Gemeinschaftsgeist sein.

    Aber dieses Verständnis von Gemeinschaftsgeist ist irreführend und oberflächlich. Nur in einer Hinsicht ist er stimmig: die Mitglieder einer Gruppe, die zu einer echten Gemeinschaft geworden sind, haben große Freude an ihrem Kollektiv. Sie wissen, dass sie gemeinsam etwas gewonnen haben, dass sie einen Wert entdeckt haben. Aber da hört die Ähnlichkeit bereits auf. In einer echten Gemeinschaft gibt es zum Beispiel kein Konkurrenzverhalten. Im Gegenteil – eine Gruppe, die von Konkurrenzgeist beherrscht wird ist per Definition keine Gemeinschaft. Konkurrenzgeist ist immer ausschließend, echte Gemeinschaft ist aber einschließend. Wenn eine Gemeinschaft Feinde hat, hat sie angefangen, den Geist von Gemeinschaft zu verlieren, sofern sie ihn je besessen hatte.

    Der Geist echter Gemeinschaft ist der Geist des Friedens. Oft fragen Menschen im Anfangsstadium der gemeinschaftsbildenden Workshops, „wie erkennen wir, dass wir eine Gemeinschaft geworden sind?“ Dies ist eine überflüssige Frage. Sowie eine Gruppe ins Gemeinschaftsstadium eintritt, findet eine drastische Veränderung statt. Ein neuer Geist ist beinahe greifbar. Er kann nicht übersehen werden. Keiner, der je diese Erfahrung gemacht hat, wird je wieder diese Frage stellen.

    Noch wird je jemand daran zweifeln, dass ein Geist des Friedens vorherrscht, wenn eine Gruppe zur Gemeinschaft wird. Eine ganz neue Art von Ruhe zieht in die Gemeinschaft ein. Die Menschen unterhalten sich leiser, und trotzdem scheinen ihre Stimmen besser hörbar zu sein. Es gibt Zeiten des Schweigens, aber dieses Schweigen ist nie angespannt. Im Gegenteil, das Schweigen ist willkommen. Es fühlt sich ruhig an. Nichts ist anstrengend. Das Chaos hat ein Ende. Es ist als wäre Lärm durch Musik ersetzt worden. Die Menschen lauschen und können hören. Alles ist friedlich.

    Aber Geist kann man nicht festnageln. Er lässt sich nicht einfangen, nicht in feste Definitionen fassen, wie materielle Objekte. So bedeutet Friedlichkeit in Gemeinschaft oft etwas Bestimmtes. Die Mitglieder kämpfen oft hart miteinander. Der Kampf kann aufgeregt und überschwänglich werden ohne Zeit für Schweigen. Aber es ist ein produktiver, kein zerstörerischer Kampf. Er bewegt sich immer in Richtung Konsens, denn es ist immer ein liebender Kampf. Er spielt sich auf dem Untergrund der Liebe ab. Der Geist von Gemeinschaft ist immer der Geist des Friedens und der Liebe.

    Die Atmosphäre von Frieden und Liebe ist in beinahe jeder Gemeinschaft so greifbar, dass alle Mitglieder sie als Geist erfahren. Deshalb berichten selbst nicht-gläubige und atheistische Teilnehmer von einem gemeinschaftsbildenden Workshop als spirituelle Erfahrung. Doch wird diese Erfahrung sehr interpretiert. Menschen mit einem nicht-religiös geprägten Bewusstsein tendieren zur Annahme, dass der Geist der Gemeinschaft das Produkt der Gruppe selbst ist, und so schön das ist, sei das auch alles. Die meisten christlich eingestellten Menschen haben ein komplexeres Verständnis. In dieser Weltsicht wird der Gemeinschaftsgeist nicht als ein rein menschlicher Geist betrachtet, oder nur von der Gruppe kreiert. Vielmehr nimmt man an, der Geist komme über eine Gruppe, so wie der Heilige Geist über Jesus und seine Taufe kam in Form einer Taube. Das heißt jedoch nicht, dass das „Erscheinen des Geistes“ als etwas Zufälliges und unvorhersehbares angesehen wird. Er kann sich nur dort niederlassen und Wurzeln schlagen, wo der Boden fruchtbar gemacht wurde. Daher werden christlich ausgerichtete Menschen die Arbeit der Gemeinschaftsbildung als Vorbereitung für die Ankunft des Heiligen Geistes ansehen.

    Das heißt nicht, dass Gemeinschaft ein rein christliches Phänomen ist. Ich habe Gemeinschaft entstehen sehen zwischen Christen und Juden, Christen und Atheisten, Juden und Moslems, Moslems und Hindus. Menschen mit und ohne religiöse Überzeugung können Gemeinschaft bilden. Es heißt auch nicht, dass ein christlicher Glaube eine Garantie für Gemeinschaft ist. Es wurde berichtet, dass einige Männer sahen, wie die Jünger Jesu in seinem Namen Dämonen ausgetrieben haben, und sie dachten, das würde einfach sein. Also gingen sie ohne weiter zu überlegen zu ein paar Besessenen und riefen „Jesus, Jesus, Jesus“ Aber es geschah überhaupt nichts, außer dass die Dämonen sie auslachten.

    So ist das auch mit Gruppen. Eine Gruppe von Christen, die sich nicht vorbereitet haben, kann da sitzen und rufen „Jesus, Jesus, Jesus“ bis sie blau anlaufen, und nichts wird passieren. Sie werden Gemeinschaft keinen Schritt näher kommen. Andererseits kann jede Gruppe von Menschen (unabhängig von ihrer religiösen Überzeugung, und ohne dass das Wort Jesus jemals ausgesprochen wurde), die willens ist Liebe, Disziplin und Opferbereitschaft zu praktizieren – wie das wichtig war für den Geist von Gemeinschaft, die Jesus vorlebte – in seinem Namen und mit ihm versammelt sein.

    Ich selbst bin Christ, und für mich ist deshalb der Geist der Liebe und des Friedens auch der Geist von Jesus. Doch geht das christliche Verständnis von Gemeinschaft noch weiter. Die Lehre von der Dreieinigkeit – drei in einem – sagt, dass Jesus, Gott und der Heilige Geist einerseits einzeln und von einander getrennt, und andererseits das gleiche sind. Wenn ich also von Jesus als anwesend in der Gemeinschaft spreche, meine ich auch Gott und den Heiligen Geist.

    Im christlichen Gedankengut wird der Heilige Geist speziell mit Weisheit in Verbindung gebracht. Weisheit wird als eine Art von Offenbarung betrachtet. Für den nicht-religiösen Menschen gelangen wir Menschen durch Denken, Studium und das Assimilieren von Erfahrungen zur Weisheit. Das ist unser eigenes Verdienst. Wir haben uns das sozusagen verdient. Während christliche Denker zwar den Wert von Denken, Studium und Erfahrung nicht gering schätzen, glauben sie, dass das Entstehen von Weisheit mehr erfordert. Sie glauben, Weisheit sei ein Geschenk Gottes und des Heiligen Geistes.

    Die Weisheit einer echten Gemeinschaft erscheint oft wie ein Wunder. Diese Weisheit resultiert aus der Freiheit sich auszudrücken, dem Vorhandensein vielfältiger Talente und aus dem Konsensprinzip. Es gibt aber Zeiten, in denen diese Weisheit meinem religiösen Blick mehr wie eine Angelegenheit des göttlichen Geistes und möglicherweise des göttlichen Eingreifens erscheint. Dies ist einer der Gründe dafür, dass das Gefühl von Freude eine häufige Begleiterscheinung des Geistes in Gemeinschaft ist. Die Mitglieder fühlen sich zeitweise – zumindest teilweise – der normalen Welt mit ihren Sorgen entrückt. Für Augenblicke ist es, als hätten sich Himmel und Erde irgendwie getroffen.


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